Relativ steile 1’200 Höhenmeter will ich heute anpacken. Start ist in Rovio im Val Marra beim Luganersee. Im Tessin ist für dieses Wochenende sonniges Wetter angesagt, im Gegensatz zur restlichen, regnerischen Schweiz. Ausgangspunkt ist Bellinzona. Tags zuvor wanderte ich bereits im Centovalli und übernachtete in Locarno.
Mit Bahn und Bus erreiche ich mit meinem Wandergefährten das schmucke Tessiner Dorf Rovio. Gleich bei der Bushaltestelle beginnt der Wanderweg. Gute zwei Stunden wandern wir konstant steil hinauf durch Mischwald, der im Tessin jedoch hauptsächlich aus Buchen besteht. Das satte Grün der frischen Triebe und Blätter erquickt das Auge und regt den Geruchssinn an. Ich liebe den Frühlingsduft der Wälder.
Mein Gefährte ist rücksichtsvoll. Er könnte grundsätzlich in der doppelten Geschwindigkeit den Berg hochstürmen. Das darf er dann ohne mich wieder machen 😉 Mit viel Verständnis für mein normales Wandertempo erreichen wir nach rund zwei Stunden die Alp Al Perustábiu, wo wir uns eine kurze Verschnaufpause gönnen. Ich esse nochmals einen Energieriegel für die kommende Kraxelpassage, die unter dem Gipfel Baraghetto vorbeiführt. Hier gibt es auch einen kurzen Klettersteig. Wir erblicken die luftige Brücke und freuen uns schon. Später stellen wir fest, dass sie eben zum Klettersteig gehört und somit nicht auf unserer Route liegt. Der Sentiero Gianola ist der erste Alpinwanderweg im Sottoceneri und wird auch Via Della genannt.


Diese letzten 500 Höhenmeter auf dem alpin markierten Pfad im Schwierigkeitsgrad T4+ sind spannend. Der Weg wird schmal und ausgesetzt. Einige Stellen an den steilen Bergflanken entlang sind mit Fixseilen gesichert. Leichtes Kraxeln ist angesagt. In solchem Terrain steigt meine Freude, und ich vergesse die Höhenmeter. Das Dorf Rovio ist mittlerweile fast unsichtbar klein geworden. Die Aussicht auf den intensiv blau schimmernden Luganersee und die typischen waldbewachsenen Tessiner Hügel ist eine Augenweide.
Mich faszinieren die quer geschichteten Felszacken. Sie erinnern mich an die Pancake Rocks in Neuseeland. Wir kraxeln weiter und kommen gut voran. Die Sicherungen sind ideal angebracht, und einige Eisentritte helfen über grössere Felsabsätze. Fast auf der Krete angekommen weist mich mein Begleiter auf einen speziellen Felsen hin. Als ich mich umdrehe, sehe auch ich das aufgemalte Schweizerkreuz.


Kurze Zeit später stehen wir auf dem Gipfel des Monte Generoso, der tatsächlich noch auf Schweizer Seite liegt. Ein leichter Windzug kühlt mein Gesicht. Das 360°-Panorama ist einmal mehr unbeschreiblich schön. Das Gipfel-Gebäude mit dem auserlesenen Namen «Fiore di Pietra» wurde von Mario Botta entworfen. Diese «steinige Blume» auf 1’704 Metern über Meer spricht mich allerdings weniger an. Die Panoramaterrasse gefällt mir besser, allerdings nicht wegen des Designs. Hier geniessen wir Kaffee und Kuchen. Die meinem Begleiter vorab versprochenen Cappuccinos dürfen erfüllt werden.


Nach Capolago fahren wir mit der Zahnradbahn zurück. Gemütlich tuckert die voll besetzte Bahn mit Panoramafenstern ins Tal. Auf dieser Seite ist der Monte Generoso flacher. Grüne Weideflächen wechseln sich ab mit Wäldern. Die Buchen dominieren auch hier. Bis Bellinzona fahren wir noch zusammen, dann steige ich dankbar in den Zug in Richtung Norden, und mein Begleiter fährt per Auto nach Hause. Ein erlebnisreicher Tag mit Sonne am Himmel und im Herzen neigt sich dem Ende zu.